15. Dezember 2021

Rückblick 8. Treffen der Selbsthilfegruppenleiter/-innen der Regionen West und Nord der MigräneLiga e. V. in der Berolina Klinik am 6. November 2021

Teilnehmer*innen, Referent*innen u. Organisator*innen

Frau Veronika Bäcker, Präsidentin Migräneliga e. V.

Frau Annika Sandré, Vizepräsidentin Migräneliga e. V.

Andree Gleißner, Geschäftsführer Berolina Klinik

Frau Mechthild Gesmann, Kopfschmerzexpertin Berolina Klinik

Herr Rolf Süllwold, Kopfschmerzexperte Berolina Klinik

Herr Dr. med. Jörg Manzick, Kopfschmerzexperte u. Chefarzt Psychosomatik Berolina Klinik

Herr Dipl.-Psych. Arne Sörensen, Kopfschmerzexperte Berolina Klinik

ACT-praktische Übung

Zukunftswerkstatt Selbsthilfe

Unter dem diesjährigen Motto der Migräneliga e. V. „Wege aus der Migräne"  treffen sich seit acht Jahren die Selbsthilfegruppenleiter/-innen der Regionen West und Nord der MigräneLiga Deutschland e.V. in der Berolina Klinik in Löhne/Bad Oeynhausen. Bei dieser jährlichen Fortbildung ist die Berolina Klinik Gastgeber, stellt die Räumlichkeiten und  die Referentinnen und Referenten. Die Gesamtorganisation liegt bei der Migräneliga e. V. Da in 2020 die Fortbildung COVID-bedingt als Videokonferenz organisiert wurde, freuten sich die Teilnehmenden und die Veranstalterin umso mehr, dass das Treffen am 6. November 2021 unter den bekannten Hygieneauflagen (3-G-Regel) wieder als Präsenzveranstaltung stattfinden konnte. Annika Sandré, Vizepräsidentin der MigräneLiga e. V. Deutschland, leitete als Moderatorin mit viel Charme und Elan die Teilnehmenden durch den, wie sie sagte, „toughen" Arbeitsplan, der wie in den Jahren zuvor mit mehreren Vorträgen, Diskussionen und Arbeitsgruppen am Nachmittag sehr arbeitsreich war. Grußworte hielten Andree Gleißner, Geschäftsführer der Berolina Klinik und Veronika Bäcker, Präsidentin der MigräneLiga e.V. Deutschland. Frau Bäcker richtete einen besonderen Dank an die Berolina Klinik. „Die MigräneLiga würde immer herzlich empfangen und die Fortbildung in der Klinik sei ein fester Pol im Jahresverlauf geworden", stellte sie fest. Zum Schluss machte sie kurz auf die druckfrische Broschüre „Migräne bei Frauen" aufmerksam, bestellbar bei logistikDYXVKEJImigraeneligaCZYWLFKJde. 
Die erste Referentin war Frau Mechthild Gesmann, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachärztin für Innere Medizin und zertifizierte Kopfschmerztherapeutin. Sie leitet gemeinsam mit den weiteren Referenten des Tages den Schwerpunkt Migräne- und Kopfschmerztherapie der Berolina Klinik Löhne/Bad Oeynhausen und sie ist mit einer Praxis für Kopfschmerztherapie in Herford als Ärztin niedergelassen. In ihrem Vortrag zum Thema „Aktuelles aus der Migräne- und Kopfschmerztherapie" erläuterte sie die Definition der Erkrankung Migräne unter Bezugnahme auf die aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien von ärztlichen Fachgesellschaften. Migräne wird hiernach als neurobiologische Erkrankung des Gehirns mit genetischer Grundlage verstanden, deren Auslösung durch psychische, physische und soziale Faktoren mit verursacht ist. Migräne kann a) als neurologisches Phänomen – eine neurogene Entzündung verstanden werden, b) als Überaktivierung des trigeminalen Nervensystems und/oder c) als dysfunktionale Veränderung von Hypothalamus und Hirnstamm als „Generator" einer Migräneattacke. Stress- und Umweltfaktoren senken die Migräneschwelle oder schwächen die Schmerzhemmung. 
Für das Erreichen von Therapiezielen wie der Reduktion der Attackenhäufigkeit um mindestens 30 %, der Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität, der Erhaltung der sozialen und beruflichen Teilnahme und der Verbesserung der Funktionalität, gibt es viele bewährte und neue Therapiemöglichkeiten. Frau Gesmann hat eine kleine Auswahl von Therapien zur Vertiefung ausgewählt, insbesondere die Medikamente, die den CGRP-Botenstoff hemmen oder bestimmte Rezeptoren blockieren: Triptane und CGRP-Antikörper. Zu den CGRP-spezifischen Antikörpern werden klinische Erfahrungen noch gesammelt, z. B. auch zu Nebenwirkungen und Kombinierbarkeit mit anderen Medikamenten. Möglicherweise besteht demnächst in Deutschland die Möglichkeit, diese in Tablettenform zu schlucken statt als Injektion zu verabreichen. Eine Verordnung von CGRP-Antikörperpräparaten ist nur möglich, wenn die anderen Behandlungswege zur Migräneprophylaxe bereits durchlaufen sind. Der Ausschluss von Kontraindikationen ist hierbei eine wichtige ärztliche Beratungsaufgabe. Da die Migräne oftmals eine komplexe Erkrankung ist, wird für Anamnese, Differentialdiagnostik und Therapie eine zeitaufwändige persönliche Beratung notwendig.
Anschließend nahm sich Frau Gesmann viel Zeit für die Beantwortung von individuellen Fragen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Rolf Süllwold, Neurologe und ehemaliger Chefarzt der Abteilung Psychosomatik der Berolina Klinik, referierte über den Status migraenosus. Diese Form der Migräne hält 72 Stunden oder länger an und ist besonders beeinträchtigend - man ist vollständig außer Gefecht gesetzt. „Was tun, wenn der Schmerz sich nicht unterbrechen lässt?" ist hier die Frage. Mit Frau Gesmann leitet Herr Süllwold  den Migräneschwerpunkt und die Kopfschmerzgruppen der Berolina Klinik. Auch in diesen Gruppen fragt er häufig nach, wer schon mal den Status migraenosus erlebt hat und wie man darauf reagiert hat, so auch in der aktuellen SHG-Leiter Fortbildung. Die Reaktionen sind immer und so auch hier, sehr unterschiedlich: noch ein Triptan einnehmen, durchhalten, Notaufnahme usw. Herr Süllwold betonte aber, dass mit solchen Schmerzen eine ärztliche Behandlung auf jeden Fall die richtige Entscheidung sei. Unter den indizierten Behandlungsoptionen gibt es keine, die man selbst durchführen kann. Zu beachten sind weiterhin die unterschiedlichen, spezifischen Formen wie der menstruationsassoziierte Status migraenosus, die therapieresistente Migräneattacke und der Status migraenosus bei Medikamentenübergebrauch. Bei ersterer gibt es Möglichkeiten einer vorbeugenden Behandlung. Bei letzterem sei eine Medikamentenpause von 100 auf 0 die Ultima Ratio. 
Anschließend entwickelte sich eine ausführliche Diskussion zu Behandlungsvarianten, zu lang- und kurzwirksamen Mitteln und zu einigen experimentellen Ansätzen der Universitätskliniken. Einige Teilnehmende erzählten von ihren leider nicht seltenen Erfahrungen, von Krankenwagen oder Notaufnahmen zurückgewiesen zu werden, weil der außergewöhnliche Härtegrad ihrer Schmerzen vom medizinischen Personal nicht ernst genommen wurde.
Dr. Jörg Manzick, Facharzt für Neurologie, für Psychosomatische Medizin und für Psychiatrie, Chefarzt der Abteilung Psychosomatik der Berolina Klinik, diskutierte das Thema „psychische Komorbidität bei Migräne – Angststörungen und Depressionen". Er erkundigte sich zunächst bei den Selbsthilfegruppenleitenden welche Fragen zu Depression und Angst in ihren Gruppen häufig gestellt werden. Es zeigte sich, dass insbesondere die Frage oft aufkommt, inwiefern eine depressive Verstimmung in kausalem Zusammenhang mit Migräne stehe. Betroffene haben auch stigmatisierende Äußerungen erlebt, etwa wie „Wegen deiner Depression hast du Migräne". Anstatt Hilfe zu bekommen fühlen sich Patienten angesichts solcher Bemerkungen genötigt, sich zu rechtfertigen. Herr Dr. Manzick führte aus, dass die chronische Migräneerkrankung Gefühle von Hilflosigkeit erzeuge und dass diese die Entwicklung einer depressiven Erkrankung begünstigen können. Die Vermeidung von potenziellen Triggern kann sich ebenfalls über lange Zeit zu einer ausgeprägten Phobie entwickeln. Ständige Schmerzen können auch zur Angst vor Bewegung verleiten, mit der Konsequenz, dass begleitende depressive Verstimmungen weniger schnell abgeschüttelt werden können. Die gleichzeitige Erkrankung von Migräne und Depression oder aber Angststörung kommt statistisch häufiger vor, aber die statistische Korrelation erklärt nicht die Kausalität und Herr Dr. Manzick vertiefte mögliche Mechanismen, die diesen Zusammenhang erklären können. Womöglich gibt es gemeinsame genetische Hintergründe und ferner auch körperliche-physiologische-biologische Ursachen, wohl auch in Verbindung mit psychischen Zusammenhängen (über Gefühle, Erinnerungen, Wahrnehmungen und Deutungen). Eher wahrscheinlich ist die Zusammenwirkung von all diesen Ebenen in einem psychosomatischen Erklärungskomplex. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, auch in der Behandlung von komorbider Migräne und psychischer Erkrankung diese in Zusammenhang zu setzen, statt zwei eigenständige Behandlungen einzusetzen. Das setze jedoch eine ganz individuelle Therapie voraus. Teil einer solchen psychosomatisch orientierten Therapie kann in geeigneten Fällen die ACT sein: die Akzeptanz und Commitment (Selbst-Verpflichtung) Therapie. Über diesen psychotherapeutischen Ansatz referierte Herr Arne Sörensen, psychologischer Psychotherapeut und Leiter des psychologischen Dienstes der Berolina Klinik, in Form eines Workshops mit praktischen Übungen. Grundlage der ACT ist die Erkenntnis, dass die erfolgreiche Bewältigung einer chronischen Krankheit wie Migräne eine gewisse Form der Akzeptanz voraussetzt. Um etwas zu bewältigen, muss man es erst einmal an sich heranlassen. Insofern lautet der Hinweis aus der ACT, dass wir eigentlich nicht „Wege aus der Migräne, sondern eher Wege mit der Migräne suchen", so Herr Sörensen. Das heißt, ich muss die Krankheit annehmen und in mein Leben integrieren, damit die Dinge, die mich belasten und beschäftigen mich nicht auch noch beängstigen und beunruhigen. Die Akzeptanz ist nicht im Sinne eines „ich kann sowieso nichts dagegen tun" zu verstehen sondern eher in der Form, „die Migräne meint es auch ganz gut mit mir, denn sie leitet mich an, auf mich zu achten." Natürlich kann die Akzeptanz nur als Prozess zu sehen sein, an dessen Ende sich individuelle Bewältigungsstrategien eröffnen. Herr Sörensen leitete zur Veranschaulichung eine aufschlussreiche Übung an. Sitzend gegenüber halten zwei Personen einen Schreibblock in der Luft gemeinsam mit ihren vier Händen durch gegenseitiges drücken. Dabei entsteht automatisch eine erhöhte Achtsamkeit. Durch das Pressen kann mit den Händen nichts anderes gemacht werden, der Schmerz steigt von Minute zu Minute an. Wenn die Übung beendet ist, die Hände dann im Schoß liegen, ist der Vergleich befreiend. Man kann die Hände nutzen, die Schmerzen klingen ab. So kann es einem gehen, wenn wir lernen, Bedrückendes loszulassen. Es eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten. Man kann auf diese Art und Weise „loslassen", zum Beispiel in dem man aufhört, ständig alles, was um uns herum und mit uns passiert, zu bewerten und beurteilen. Das ständige Beurteilen verlangt sehr viel mentale Energie. Was hilft, zu dieser Art von Akzeptanz zu gelangen? Es hilft, den Blickwinkel zu ändern und die Ansprüche herunter zu schrauben. Das „weniger leisten" lässt andere Dinge in mir „wachsen". Am Anfang dieses Prozesses liegen Theorie und Praxis weit auseinander. Durch Einstellungs- und Verhaltensänderungen kann es zu Veränderungsprozessen kommen. Diese Entwicklung ist ein nicht-geradliniger Prozess, der therapeutisch begleitet werden kann. Ein „Nein" zu anderen, aber ein „Ja" zu mir zu selbst zu sagen, lässt sich unter dem Begriff der „Selbstfürsorge" zusammenfassen. Nachmittags setzten die Teilnehmenden die Fortbildung mit eigenen Gruppenübungen, einer sog. „Zukunftswerkstatt Selbsthilfe", und Diskussionen fort.